Ein Mann, ein Bein, zwei Frauen
Bei einem Unfall mit dem Fahrrad wird der Pensionist Paul Rayment so schwer verletzt, dass ihm ein Bein amputiert werden muss. Nun beginnt eine Zeit der Hilflosigkeit und Einsamkeit: Weil Paul keine Familie hat, ist er auf eine fremde Person angewiesen, die ihn wäscht, mit ihm Übungen macht und für ihn einkauft. Er stellt die Krankenschwester Marijana ein, die gemeinsam mit ihrem Mann und ihren drei Kindern aus Kroatien nach Australien geflüchtet ist. Sie ist eine Frau aus dem alten Europa, die zupackt, nicht jammert und Paul mit Achtung behandelt. Er merkt, dass er sich immer mehr zu ihr hingezogen fühlt. Er mischt sich in ihr Leben ein – und bekommt ganz unvermittelt jemanden vor die Nase gesetzt, der sich in sein Leben einmischt: Elizabeth Costello, siebzigjährig, aufdringlich und rätselhaft.
Laut Kritikern gehört J. M. Coetzee zu den „besten Schriftstellern der Welt“, 2003 hat er den Nobelpreis für Literatur bekommen. In Zeitlupe erzählt er von einem Mann, der am Ende seines Lebens erkennt, was er alles versäumt hat – und der in seiner Verzweiflung versucht, Zugang zu einer fremden Familie zu bekommen, um nicht so allein zu sein. Doch mit der Familie Jokic hat er sich nicht unbedingt die Richtigen ausgesucht: Die Beziehungen der Familienmitglieder untereinander sind kompliziert, Paul hat keinen guten Stand. Und dass die merkwürdige und lästige Elizabeth Costello ihn auf Schritt und Tritt verfolgt, erleichtert sein Leben auch nicht gerade. Gekonnt gibt Coetzee Einblick in das Seelenleben eines Mannes, der mit seinem Bein auch die Zufriedenheit mit seinem Lebensentwurf verliert.
Während ich in der ersten Hälfte des Buchs sehr angetan bin von Inhalt, Stil und Ausrichtung, taucht dann der Schwachpunkt des Romans auf: Elizabeth Costello. Sie geht nicht nur Paul auf die Nerven, sondern auch mir. Ihre Rolle bleibt leider bis zum Schluss unklar – und das ist wirklich schade. Im Gegensatz zu anderen Lesern, die vielleicht gern Rätsel mögen, kann ich es einfach nicht leiden, wenn Verwicklungen am Ende ungelöst bleiben. Zeitlupe ist eine eher schwache Erzählung, die sich zwar rasant entwickelt und einen schönen Spannungsbogen enthält, die aber kein klares Ende findet, was mir nicht behagt. Von der Schreibweise her jedoch ausgezeichnet, Coetzee versteht auf jeden Fall etwas von seinem Fach.