Stewart O’Nan: Alle, alle lieben dich

Wie einfach es ist, zu verschwinden
Die 18-jährige Kim fährt vom Strand nach hause, zieht sich um und macht sich auf den Weg in die Arbeit an der Tankstelle. Dort kommt sie jedoch nie an. Schnell wird klar: Kim ist verschwunden. Ihr Vater Ed kann nicht warten, bis die Polizei etwas unternimmt, und zieht allein seine Runden auf der Suche nach Kim. Mutter Fran geht ebenso systematisch vor: Sie fertigt Flyer an und kontaktiert die Medien. Schwester Lindsay dagegen erstarrt vor Schreck. J. P., dessen Romanze mit Kim ohnehin mit dem Sommer zu Ende wäre, ist getroffen und schließt sich – wie Kims Freundinnen – der Suche an. Doch von Kim fehlt jede Spur.

In Alle, alle lieben dich zeigt Stewart O’Nan, wie einfach es ist, zu verschwinden – und wie ratlos Familie und Freunde zurückbleiben. Kim ist ein typisches All-American-Girl und stammt aus einem 08/15-Ort, wie es in diesem Land viele gibt. Es ist ihr letzter Sommer vor dem College, das Leben liegt glitzernd vor ihr. Das hört sich alles nach einer guten und spannenden Geschichte an – aber leider gelingt es dem Autor nicht im Geringsten, mich zu fesseln. Das liegt daran, dass Durchschnittskim mich ganz einfach nicht interessiert: Vor ihrem Verschwinden wird sie dem Leser kurz vorgestellt, aber diese Vorstellung bleibt so oberflächlich, dass diese Figur für mich nicht greifbar wird, an ihr ist nichts Besonderes. Das ist auch gar nicht Voraussetzung, denn es verschwinden tagtäglich normale, unbesondere Menschen aus normalen, unbesonderen Familien. Aber es führt dazu, dass Kims Verschwinden mir komplett egal ist. Das Lesen dieses Romans ist für mich daher so, als würde mir meine Nachbarin erzählen, die Tochter ihrer Cousine sei verschwunden – ich hätte selbstverständlich Mitgefühl, aber die Distanz wäre groß, ich wäre nicht betroffen. Stewart O’Nan schafft es nicht, in meinem abgebrühten Herzen Interesse für das Schicksal seiner Kim zu wecken, ich langweile mich entsetzlich.

Auch die eigentlichen Protagonisten – der Vater, der Mutter, die Schwester – bleiben für mich viel zu platt und facettenlos. Lindsay ist ebenso langweilig wie ihre Schwester, der Vater legt Aktion über seine Sorgen, die Mutter muss sogar betonen, dass sie hysterisch ist, weil man es sonst gar nicht merken würde. Schriftstellerisch gesehen ist Alle, alle lieben dich in meinen Augen keine Glanzleistung: Zwar gibt es einige wenige Satzperlen, die Dialoge aber sind unerträglich fad, die Metaphern haben einen Bart. Alle Ereignisse sind vorhersehbar und werden abgespult wie in einem Film nach Schema F: Die Suche allein im Auto in der Gegend, die Interviews im Fernsehen, das Chatten mit anderen betroffenen Müttern, die Gespräche mit der Polizei. Es gibt keine Wendung, die durch die Geschichte fährt wie ein Blitz, keine Figur, die heraussticht. Was ich vermisse, ist, durch den Roman hindurch das Erschüttern zu spüren, das durch diese Familie geht, das Verzweifelte, das Zermürbende, die panische Angst, die Vorwürfe, die schlaflosen Nächte. Viel zu schnell findet sich die Familie meiner Meinung nach mit dem Fehlen eines Mitglieds ab, Lindsay macht den Führerschein, die Eltern arbeiten ganz normal, alle feiern Geburtstag. Vielleicht kann man gar nicht anders reagieren in einer solchen Situation. Vielleicht aber – und das klingt gehässig, ich weiß – geht es der Familie wie mir: Kim ist verschwunden und keinen interessiert’s.

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