Das Leben der Vorfahren
Ruth ist blond, schlank, groß, blauäugig – und Jüdin. Sie ist ein selbstsüchtiger und ungerechter Mensch, frustriert und gelangweilt in ihrer Ehe und viele Jahre über verliebt in einen anderen als ihren Mann, in den wankelmütigen Robert. Mit ihrer Tochter Anuschka kommt sie nicht zurecht, ihr etwas zurückgebliebener Bruder Ferdi bekommt wie alle anderen sanfte Liebe an einem Tag, aggressive Launen am anderen zu spüren. Als die Situation in Deutschland für Juden immer gefährlicher wird, muss Ruth mit ihrer Familie nach Israel fliehen. Dort fühlt sie sich abgedrängt und verzehrt sich nach Robert. Sie findet ihn wieder – doch er tritt auf völlig andere Weise erneut in ihr Leben als gedacht … Erzählt wird Ruths Geschichte von ihrer Enkelin Nomi, Verlegerin aus Tel Aviv, die mit Mitte vierzig endlich erkennt, dass sie ihre Wurzeln nicht länger ignorieren kann. Um herauszufinden, was mit ihren Eltern geschah, liest sie Ruths Tagebücher.
Edna Mazya ist eine der bekanntesten Theaterschriftstellerinnen Israels. Ihre eigenen Vorfahren wanderten aus Österreich nach Tel Aviv aus. Zu den Themen, die sie in ihrem Roman behandelt, hat sie also einen sehr persönlichen Bezug. In Über mich sprechen wir ein andermal steht der Holocaust nicht direkt im Vordergrund, vielmehr rumort er als Auslöser für die Ereignisse. Hass, Misstrauen und Disharmonie herrschen auch in Ruths Familie vor: Hier gibt es niemanden, der glücklich ist, ganz besonders nicht Ruths Tochter, die später zur eisernen Kommunistin wird. Edna Mazya schreibt flott und angenehm, die Erzählung ist interessant – aber nicht herausragend. Eine Frau, die über ihre Vorfahren forscht und dabei jede Menge Unzufriedenheit, Zerrissenheit und unschöne Familienbeziehungen entdeckt, das ist nichts Neues. Der Roman hat Ecken und Kanten, ist gut strukturiert, reißt mich aber nicht vom Hocker. Insofern: gutes Mittelfeld.
Ich würde noch weiter gehen: Ich fand den Roman sehr enttäuschend. Guter Ansatz, der dann leider immer wieder in die Oberflächlichkeit abrutscht. Vieles wird angerissen, nichts zuende gedacht. Die Personen sind in sich unstimmig, wie in einer Seifenoper.
Edna Mazya’s Roman ist neben der Oberflächlichkeit und des sehr unklaren Ausschaffens der Charactere vor allem auch sehr störend betreffend rein sachlicher Widersprüche. (Die folgenden Seitenangaben beziehen sich auf die dt. Ausgabe von Kiepenheuer & Wintsch), und es handelt sich nur um eine kleine Auswahl,beginnend am Schluss des Buches.
1.Der Heimflug von FRA nach TLV geht 6.05 ab in FRA.(Seite 422) Die Flugzeit beträgt um die 4Std. Auch bei 1Std oder 2Std Zeitverschiebung landet man dann spätestens um 12.00 mittags und nicht in der Dämmerung in Israel (Seite 425)
2. Ihr Grossonkel Hansi informiert Nomi am Ende ihrer Wehrdienstzeit (Seite 408) (muss bei ihrem Jahrgang 1950 ca. 1970 sein) über den Tod ihres Vaters. Obwohl dieser Hansi nach Seite 11 bereits 1963 gestorben ist. (mit 30 Jahren, also 1980 schreibt Nomi, dass Hansi vor 17 Jahren (= 1963) gestorben sei und ihr den Verlag hinterlassen habe.
3.Im „Heute“ von Seite 403 und folgende befindet sich Nomi bekannterweise in Frankfurt, um der Theater-Aufführung ihres Iren beizuwohnen. Trotzdem geht sie zur Kirche, in der Ruth und Robert (Seite 404) seinerzeit vom Priester ertappt wurden. Diese Kirche befindet sich aber ganz klar in Heidelberg (Seite 87)und nicht in Frankfurt.
4.Nomi macht 1966 mit ihrem damaligen Freund Eitan einen Ausflug ans Meer in Eilat. Es ist Sonnenuntergang (die Sonne verlosch) und 8 Zeilen weiterunten ist Sonnenaufgang statt Sonnenuntergang (alles Seite 391)
Ein Beispiel nicht für Widersprüchlichkeit, sondern der literarisch sehr schwach ausgebildeten Widergabe von Gefühlzerrissenheit und Meinungsumschwang. Ferdi kippt Nomi im Nu um, damit Nomi nicht mit Robert wegziehen würde (Seite 133 unten). Auch die überraschende Wiedersehensszene von Robert und Nomi in Palästina ist mehr als nur schwach ausgebildet (Seite 207 oben)
Erschütternd! So viele goofs. Da stimmen ja die Anschlüsse ganz und gar nicht. Sehr aufmerksam, dass du das alles bemerkt hast. Ich habe dem Buch nicht einmal ansatzweise so viel Aufmerksamkeit gewidmet … und auch ein bisschen quergelesen, da sind mir diese Unstimmigkeiten nicht aufgefallen. Das wirft zudem ein schlechtes Licht auf Lektoren, Übersetzer und Redakteure – ich arbeite ja auch mit Manuskripten, und da ist es meine Aufgabe, solche Fehler aufzudecken. Ich denke, ich sollte noch mal 1-2 Punkte abziehen … allerdings kann ich mich (und was sagt das über das Buch aus!) nach 1,5 Jahren kaum noch daran erinnern. Es ist mir da rein, da raus – und vergessen war’s. Kein bemerkenswertes Buch, und dabei hatte ich im Vorfeld so viele gute Kritiken gelesen.