Solide Spannung und schräge Ideen
Sebastian und Oskar sind kluge Köpfe und seit dem Studium beste Freunde. Als Physiker bewegen sie sich in Gefilden, in die ihnen kein normalsterbliches Gehirn folgen kann. Während Sebastian geheiratet und Sohn Liam bekommen hat, strebt Oskar nach „Höherem“ in der Physik. Dieser Punkt ist ein ständiger Zankapfel zwischen den beiden. Als Liam entführt und Sebastian zu einem Mord gezwungen wird, um seinen Sohn zu retten, kommt Kommissar Schilf ins Spiel. Er ist schlau, kauzig und eigentlich schon fertig mit dem Leben. Seine junge Kollegin Rita dagegen wird vom Ehrgeiz gesteuert. Ihr Ziel aber ist dasselbe: den Fall zu lösen.
Es gibt einen großen Hype um Juli Zeh. Schilf ist das erste Buch, das ich von ihr gelesen habe – es kam durch eine Empfehlung zu mir. Dementsprechend hoch waren meine Erwartungen, was es einem Buch niemals leicht macht. Originell finde ich die Kapitelüberschriften, die lang sind und amüsant. Weniger originell dagegen ist meiner Meinung nach die Figurenzeichnung: Wer viele Krimis gelesen hat, kennt sie alle, die abgebrühten, allwissenden Kommissare. Ein solcher ist auch Schilf. Polizistin Rita entspricht ebenfalls in den meisten Eigenschaften der Vorstellung von einer Frau, die sich durchbeißen muss in einer Männerwelt. Von dieser Seite ist also nichts Neues zu holen. Inhaltlich gesehen brilliert Juli Zeh mit einer ungewöhnlichen Idee, einer ebenso grausamen wie banalen Geschichte und einem grandiosen, grotesken Ende. Was dieses Ende angeht, so leidet dieser Roman an einem Virus, der alle Krimis befällt: Will die Auflösung glaubwürdig sein, so muss der Leser den Täter bereits kennen, die Verbindungen müssen bestehen. Das tun sie auch in diesem Buch. Und so ist die Wahrheit hinter den Ereignissen stets nur einen Moment Nachdenken entfernt. Was bedeutet: So schlau wie Kommissar Schilf bin ich auch. Das ist aber in Ordnung, ein bisschen Vorhersehbarkeit darf und muss sein – und die Genialität des Einfalls ist dennoch groß.
Während Juli Zeh einige geradlinige und herausragende Formulierungen findet, sind andere Stellen stilistisch gesehen halbgar. Ich mag die ironischen Einschübe und die verqueren Gedankengänge. Die Mischung aus Abgehobenheit – etwa wenn es um das physikalische Phänomen der Zeit geht – und klassischem What-happened-Krimi ist der Autorin gut gelungen. Abschließend lässt sich sagen, dass mir Schilf dafür, dass ich an Krimis übersättigt bin und sie nicht mehr mag, unerwartet gut gefallen hat. Vermutlich aber war es nicht das richtige Buch für mich aus Juli Zehs bisheriger Sammlung. Wer sich aber für spannende Literatur, intelligente Storykonstruktionen und abgelebte Kommissare erwärmen kann, ist hiermit jedoch bestens beraten.
Der Hype, von dem ich gar nichts mitbekommen habe, erklärt, warum mir im letzten Jahr „Spieltrieb“ mehrmals ans Herz gelegt wurde.
Schilf war auch mein erstes und bisher einziges Buch von der Autorin. Ich find es ganz gut, aber da ist noch Spielraum nach oben.