Das Wunderland der Fantasie
„Wenn ein Heiliger stirbt, riecht es im Umkreis von acht Kilometern nach Blumen.“ So klingt Menschen aus Papier: fantasievoll, verrückt, außergewöhnlich. Dies ist ein Buch, das völlig außer Konkurrenz steht, das heraussticht aus der 08/15-Masse der Veröffentlichungen. Seinen Inhalt wiederzugeben, ist beinahe unmöglich, zu überladen ist es an Personen, zu ausufernd in der Handlung. Da sind Federico de la Fe, der seine Traurigkeit bekämpft, indem er sich selbst Brandwunden zufügt, und seine Tochter Little Merced, die Limonen lutscht wie Bonbons. Dann gibt es Merced de la Papel, eine Frau aus Papier, „Beine aus Pappe, ein Blinddarm aus Zellophan und papierne Brüste“. Eine Rolle spielen auch Froggy, Sandra und die anderen Mitglieder der EMF, die vereint sind in einem ganz besonderen Krieg: Sie wehren sich gegen den übermächtigen Saturn, der sie stets beobachtet, sie wollen frei sein, sie führen Krieg „gegen eine Geschichte, gegen die Geschichte, wie Saturn sie schreibt“.
Menschen aus Papier ist ein wildes Buch, das in kein Genre und keine Schublade passt – dafür sorgt wörtlich gesehen schon das ungewohnt große Format. Salvador Plascencia lässt einen bunten Reigen an Figuren auftreten, die alle für sich erzählen, und doch gibt es Überschneidungspunkte, die Erzählstränge überlappen sich, die Ereignisse sind miteinander verwoben. Der ständige Perspektivenwechsel wirft ein facettenreiches Licht auf die Protagonisten und die Handlung. Eine Hauptperson gibt es nicht, es scheint, als könne jeder sich an der Entwicklung der Geschichte beteiligen, als sei ihr Ausgang stets offen. Auch optisch ist dieser Roman eine originelle Abwechslung zu „normalen“ Büchern: In Spalten gesetzt, mit leeren Stellen oder grauen Markierungen durchzogen, gleicht der Text dem abstrusen Inhalt und fordert den Leser heraus.
Der Fokus auf der mexikanischen Lebenswelt und der schweren Traurigkeit, die die Menschen verfolgt, macht den Vergleich zu Gabriel García Márquez verständlich, auch wenn sich Salvador Plascencia einer komplett anderen Art bedient, einen Roman zu schreiben: Er stellt sich selbst hinein in dieses Buch – wie, das soll nicht verraten werden – und lässt eine Beziehung zwischen Autor und Buchfiguren entstehen, die schon Jostein Gaarder zu großem Erfolg geführt hat. Menschen aus Papier ist ein Berg von einem Buch, den man erst einmal erklimmen muss, Wegweiser gibt es keine, eine erklärende Karte auch nicht. Menschen haben Heiligenscheine in diesem Roman, sie betäuben sich selbst, indem sie Bienen auf ihren Armen ausdrücken, sie verstecken sich hinter Blei, sie tun nichts, was auch nur irgendwie einer nachvollziehbaren Realität entstammen könnte. Salvador Plascencia hat ein berauschendes, faszinierendes Buch geschrieben, auf das man sich bewusst einlassen muss. Der einzige Schwachpunkt in meinen Augen ist, dass die Flut an Charakteren letztlich nirgendwohin führt, dass das Buch in seiner eigenen Fantasiewelt verloren geht. Aber das ist zu verkraften und vermutlich so gewollt. Was bleibt also übrig am Ende dieses unvergleichlichen Erlebnisses? Der Kleber, der Buchseiten wie Menschen aus Papier zusammenhält, das, was immer hinter allem steht. Natürlich. Die Liebe.
Menschen aus Papier ist erschienen bei Edition Nautilus (ISBN 978-3894015879, 19,90 Euro).
Das liest sich sehr interessant, wenn vielleicht auch ein wenig anstrengend. Ich werde es in der Kategorie „Besonderes“ vermerken, denn mein Interesse hast du mit deiner Rezension geweckt.
Würdest du sagen, dass man in einer bestimmten Stimmung sein sollte, wenn man dieses Buch lesen möchte? Wenn ja, welche?
Liebe Grüße,
Ada
Oh, gute Frage … ich würde sagen, man sollte auf jeden Fall entspannt und aufnahmebereit sein, sonst kommt man schnell draus. Man muss es auch mögen, dass der Autor sich selbst ins Buch stellt und dieses damit ad absurdum führt … bin gespannt, ob du es liest und wie du es findest!
Dankeschön für deine Antwort. Wenn es soweit ist, sage ich dir Bescheid