„Ich war zum Holen auf der Welt“
„Meine Schwester und ich, wir waren eher Nutztiere als Kinder.“ In Gasthauskind berichtet Ingried Wohllaib in drastischen Bildern und klaren Worten von einer Kindheit im Wirtshaus, vom Aufwachsen zwischen betrunkenen Stammgästen, mit einer niemals endenden Liste von Aufgaben und viel zu wenig Zuneigung. Zu tun ist immer etwas, auch für Kinder, die gerade einmal mit dem Gesicht bis zur Theke reichen. Das Gasthaus steht in Süddeutschland, es sind die Fünfzigerjahre, der Ton ist generell rau, Rücksicht auf Kinder kennt hier niemand. In der Wirtsstube wird geraucht, die Stammgäste nehmen sich Unfassbares heraus: „Sie waren immer überall. Zehntausend Quadratmeter Grund gehörten zu unserem Gasthof, und jeder Stammgast nutzte ihn zu allem, was ihm in den Sinn kam. Ich lernte: Man darf ihnen nichts abschlagen, nie. Wer konsumierte und zahlte, war wichtiger als ich.“
Ingried Wohllaib ist Grafikerin, und in ihrer Sprache bildet sie eine längst vergangene Wirklichkeit ab: Sie zeichnet detailreiche Bilder und erzählt ganz einfach, wie es war, wie es sich angefühlt hat, wie sie sich erinnert. Ich mag die kurzen Sätze, die direkten Formulierungen, die so ohne Umschweife auf den Punkt kommen. Die Autorin gibt Einblicke in eine Welt, die kaum jemand kennt und die viele sich nicht vorzustellen vermögen: das Leben als Wirtshauskind, als Arbeitstier, als Kellnerin, Putzfrau, Eisverkäuferin und Küchensklavin. Ich bin kein Gasthauskind, aber ein Gasthausnachbarkind – und deshalb liegt mir diese Welt nicht fern, sie ist mir bekannt, und in vielem, das Ingried Wohllaib beschreibt, entdecke ich eigene Erlebnisse wieder. Die Wirtshauskinder von damals waren und sind meine besten Freunde, und durch die Nähe zum Café wurde auch ich oft eingefangen, in den Keller geschickt, um etwas zu holen, zum Almdudlerausschenken verdonnert oder zum Geschirrspülerausräumen. Es war selbstverständlich, dass man helfen musste, ein „Da hab isch kein Bock drauff“ – wie man es heute ständig von Jugendlichen in den Reality-Family-TV-Formaten des deutschen Fernsehens hört – gab es ganz einfach nicht. Und wenn doch, dann knallte es. Ins Gesicht.
Es mag sein, dass mir durch diese meine persönliche Geschichte Gasthauskind besonders gut gefällt. Während andere Leser vielleicht ungläubig den Kopf schütteln und der Autorin zu viel Fantasie unterstellen, finde ich ihren Bericht authentisch. Ich leide mit und muss dennoch manchmal schmunzeln, denn wie immer ist Komik auch hier Tragik in Spiegelschrift. Ingried Wohllaib hat es geschafft, den Alltag auf dem Land, das Saufen und wahllose Schmusen, das Tratschen und Arbeiten im Wirtshaus, das auch am Ruhetag kein Ende nimmt, einzufangen und auf Papier zu bannen. In kurzen Geschichten lässt sie ihre Kindheit aufleben, die etwas Besonderes war – leider in negativer Hinsicht. Ein eindrucksvolles und gelungenes Buch!
Lieblingszitat: „Kühe sind die Buddhisten unter den Tieren. Woher nehmen sie diese Gelassenheit? Sie scheißen einfach an sich selbst hinunter und sehen einen unter langen Wimpern fragend an.“
Gasthauskind ist erschienen bei Piper (ISBN 978-3492052900, 16,95 Euro).
Vielen Dank für diese Rezension. Ich würde jetzt gerne dieses Buch lesen. Schade, dass ich es nicht kurz von Dir ausleihen kann 😉
Liebe Grüße
Bibliophilin
Grins … das wäre generell sehr vorteilhaft! Die virtuelle Welt hilft ja beim Kommunizieren über Grenzen hinweg, aber bei geografischer Nähe könnten wir einen regen Tauschhandel betreiben 😉
Ingried war eine Schulkameradin und ich kann nur sagen, hätte ich gewusst, wie es ihr geht, dann hätte ich mehr Verständnis für ihre kühle ablehnende Haltung ihrer Schulkameraden gegenüber gehabt.
Sie hat sich getraut so kurze Röckchen zu tragen, wie sonst keiner und hatte so lange schöne Beine, wie wir alle nicht.
Ich würde sagen, dass man sich das Buch kaufen sollte, wenn man es schon lesen will. Warum nicht dem andern ein paar EUR gönnen.
Danke Ingried, mein Gedichtband kommt auch noch in diesem Jahr heraus…
Liebe Grüße, falls du es liest .