Daniel Alarcón: Lost City Radio

Melancholie erster Klasse
Eine Stadt, namenlos, in einem Land, über das sich ein blutiger Bürgerkrieg gewälzt hat: Hier lebt Norma, die seit 10 Jahren – seit der Krieg zu Ende ist – auf ein Lebenszeichen ihres Mannes Rey wartet, der aus dem Dschungel nicht nach Hause gekommen ist. Rey war Ethnobotaniker, und obwohl sein Name auf der Schwarzen Liste steht, glaubt Norma nicht, dass er zu den Untergrundkämpfern der IL gehört hat, die sich gegen die Regierung aufgelehnt haben. Aber was weiß sie wirklich von Rey? Diese quälende Frage muss sich Norma stellen, als der kleine Victor auftaucht: Er kommt aus dem Dschungel und hat eine Liste bei sich mit den Namen jener, die verschwunden sind. Er kommt damit zu Norma, weil sie die Radiosendung Lost City Radio moderiert, weil sie jeden Sonntag nach Vermissten sucht und weil sie „die Mutter eines imaginären Volks verschwundener Menschen“ ist. Norma, von der Einsamkeit und der Sehnsucht gezeichnet, nimmt Victor bei sich auf und geht mit ihm auf eine Suche, die ihr endlich Aufschluss geben soll darüber, was geschehen ist. Denn auf Victors Liste steht auch Reys Name.

Lost City Radio ist ein unvergleichlich schönes Buch über Schmerz und Gewalt, über das Sehnen nach einem geliebten Menschen und über die Geheimnisse, die jeder in sich verbirgt. Daniel Alarcón, gerade einmal 33 Jahre alt, verlegt die Geschichte an einen namenlosen Ort und gibt ihr dadurch den Stellenwert einer Parabel, denn was sich in diesem Buch ereignet, kann so oder ähnlich überall geschehen auf dieser Welt, wo Krieg herrscht, Menschen einander belügen und verlieren, wo sie Angst haben vor der Obrigkeit und vor den Nachbarn. „Früher hatte jede Stadt einen Namen gehabt, einen plumpen, tausend Jahre alten Namen, geerbt von Gott weiß welchem ausgestorbenen Volk, Namen mit harten Konsonanten, die klangen, als riebe Stein gegen Stein.“ Norma ist eine ganz besondere Hauptfigur: Sie gibt den vermissten Menschen eine Stimme, sie wird vom Volk verehrt – und ist doch selbst ganz verloren in einem Strudel aus Hoffnung und Alleinsein, sie erstickt fast an der Ungewissheit. „Reys Abwesenheit klebte an ihr wie eine ansteckende Krankheit.“ Und dann bricht plötzlich alles auf, die Vergangenheit wird sichtbar – und wie schlau Daniel Alarcón diesen Roman konstruiert hat, ist tatsächlich bewundernswert.

Jeweils aus ihrer Sicht erzählen Norma, Victor, Rey und der Lehrer Manau, der in Victors Mutter Adela verliebt war, von unsicheren Zeiten, von Folter, Verrat und Tod, von Liebe und der Macht der Erinnerung. Ihre Perspektiven sind ineinander verwoben und zeitenübergreifend, es gibt Zeitsprünge mitten in den Absätzen, die aber gut zusammengesetzt und daher nicht verwirrend sind, sondern vielmehr wirken wie spannende Filmschnitte. Dies ist ein bewegendes, ein trauriges, ein weises Buch, inhaltlich ebenso ausgezeichnet wie sprachlich. Es kommt selten vor, dass ich mir wünsche, es möge mehr Romane geben wie diesen. Volle Punktezahl, bedingungslose Empfehlung!

Lost City Radio ist erschienen im Verlag Klaus Wagenbach (ISBN 978-3-803132185, 22,90 Euro).

3 thoughts on “Daniel Alarcón: Lost City Radio

  1. Ich liebe dieses Buch! Habe es auf dem Hinflug bei der Werbeaktion eines Buchhandels am Züricher Flughafen aus dem Geschenkestapel gefischt, da ich das Cover noch von hier kannte. Ein wahrer Glücksgriff. Ein Hoch auf Deinen Blog und mein Gedächtnis.

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