Ein Buch wie eine Laterne, ein Streicheln, eine Axt
„Most days I wish I was a British pound coin instead of an African girl.“ So beginnt Little Bees Erzählung und für ihren Wunsch hat sie allen Grund: Im Gegensatz zu einem Pfund will niemand ein illegales afrikanisches Mädchen im Inselkönigreich. Und genau das ist die 16-jährige Little Bee nach ihrer Freilassung aus dem „detention center“, in dem sie seit nach ihrer Flucht aus Nigerien und ihrer Ankunft in England zwei Jahre verbracht hat. Sie ist Spezialistin geworden im Aufspüren von Möglichkeiten, sich umzubringen, jederzeit und an jedem Ort, sollte es plötzlich nötig sein. Es gibt nur zwei Menschen, die sie in Großbritannien kennt: Sarah und Andrew. Sie trafen sich einst an einem Strand in Nigerien, und das Schicksal hat sie untrennbar miteinander verbunden. Als Little Bee bei Sarah auftaucht, wird diese von den damaligen Ereignissen eingeholt. Und Andrew ist plötzlich tot.
Es ist ein vielzitierter Satz von Kafka, den ich hier bemühen will: Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. Ein solches Buch ist Little Bee. Es ist eindrucksvoll, zermürbend, erschütternd und traurig – ein Buch, das man nicht so schnell vergisst, nach Möglichkeit nie. Aus diesem Grund habe ich mich nicht an die Bitte im Klappentext gehalten, nichts über den Inhalt zu verraten: Zwar halte ich das für einen originellen Marketingtrick (der zumindest bei mir funktioniert hat, ich wusste nicht, was mich erwartete), aber dieser Roman ist einfach zu schön und zu wertvoll, um über seine Bedeutung zu schweigen. Im Gegenteil, mögen alle wissen, worum es geht, und sich angezogen fühlen, damit sie Little Bee lesen, darüber sprechen, es weiterempfehlen und verschenken. Dies ist ein Roman über Intoleranz und Grausamkeit, über Fremdenhass und die Heimatlosigkeit von Flüchtlingen, über Schuld und Egoismus. Dies ist ein wichtiger Roman, der herausstechen sollte aus der Masse der Publikationen.
„Everything was happiness and singing when I was a little girl. There was plenty of time for it. We had no hurry. We did not have electricity or fresh water or sadness either, because none of these had been connected to our village yet.“ Es ist die Gier, die Little Bees Leben zerstört, die Gier nach Öl – das ihr in der Form von Benzin in England wieder begegnet. Dort ist das Leben trist für einen illegalen Flüchtling wie sie: „I was thinking, if the head of the United Nations telephoned one morning and said, Greetings, Little Bee, to you falls the great honor of designing a national flag for all the world’s refugees, then the flag I would make would be gray.“ Diese schmerzhafte Geschichte wird aus der Perspektive von Little Bee und jener von Sarah erzählt, die mit dem Selbstmord ihres Mannes einen Albtraum erlebt: „A week ago I had been a successful working mother. Now I was sitting at my husband’s funeral, flanked by a superhero and a Nigerian refugee.“ Ihr vierjähriger Sohn Charlie weigert sich, sein Batman-Kostüm auszuziehen: Nichts hätte er dann der grausamen Welt mehr entgegenzusetzen. Und Sarah beginnt einen aussichtslosen Kampf: Sie will Little Bee helfen.
Was würdest du tun, um das Leben eines Fremden zu retten? Das ist die Frage, die Chris Cleave dem Leser stellt. Wo hört das Wegschauen auf, wo fängt die Verantwortung eines jeden von uns an? Little Bee ist ein Buch über Menschlichkeit, ein leuchtendes Buch, von dem ich wünschte, alle könnten es lesen, besonders die Ausländerbespucker und Flüchtlingshasser, damit sie für einen Moment spürten, wie es sich anfühlen muss, heimatlos zu sein, allein, voller Angst und verloren. Mit dieser aufschreckenden und anrührenden Geschichte sticht der Autor jedem, der ein Herz hat, mitten hinein. Er erzählt auf direkte Weise von Terror und Trauer, findet dabei wunderschöne Worte und legt jenen tragischen Humor über seinen Bericht, der von menschlicher Größe zeugt. Ich bin begeistert, beeindruckt, berührt, ich verneige mich. Mein Buch des Jahres 2010.
Lieblingszitat: If your face is swollen from the severe beatings of life, smile and pretend to be a fat man. (Nigerian proverb)
Nigeria?
Geht beides!
:O nachdem ich das buch ja kenne, kann ich nur sagen: spitze rezensiert! und dabei nicht zu viel verraten …
liebe grüße, monika
Wunderbar getroffen, dieses Buch hat mich zutiefst berührt. Der Klappentext, insb. der englische verriet kaum etwas und ich hatte mit einer ganz anderen Geschichte gerechnet, als der, die mich dann vom Lesesessel haute!
Wie steht es auf dem Buch? „Immensely readable“ – kaum übersetzbar, und so wahr!
Ich stimme dir absolut zu, ein selten gutes Buch!
Ich nehme es mit in den Urlaub und werde nachher berichten!
Eines der besten Bücher die ich je gelesen habe. Sprachlich wunderschön und inhaltlich nicht zu toppen. Little Bee ist Liebesroman, Krimi, und Problembuch in einem und trifft den Leser mit einer unheimlichen Wucht…
Liebe Naja, vielen Dank für deinen Kommentar – dass du auch so berührt von diesem Buch bist, freut mich sehr, da es mir richtig am Herzen liegt. Wenn man von einem Buch so in die Knie gezwungen wird wie von diesem, wünscht man ihm möglichst viele Leser …