Ein ergreifendes Buch frei von Pathos
„Mein Vater starb nur wenige Wochen nach meiner Geburt. Mir blieb nichts als ein Foto.“ Jahrelang steht es auf der Kommode, dieses Foto, bis dem jugendlichen Erzähler plötzlich ein Detail auffällt, das er bislang übersehen hat: die Uhr, die der nie gekannte Vater am Handgelenk trägt. Wo ist sie jetzt? Es ist ihm auf einmal ein Bedürfnis, diese Uhr zu finden, sie zu besitzen. „Ich war siebzehn, es war ein Mittwochnachmittag, es ist lange her.“ Und so macht er sich auf die Suche: nach der Uhr, nach Antworten auf die vielen offenen Fragen, denen die Mutter seit Jahren ausweicht, nach der eigenen Identität. Das Ziel ist Paris, es ist Sommer, unser Held ist 17, und wenn er nach hause zurückkehrt, wird er erwachsen sein – und endlich wissen, was damals mit seinem Vater geschehen ist.
In Zur falschen Zeit richtet der preisgekrönte Autor Alain Claude Sulzer das Scheinwerferlicht auf einen jungen Mann, der, um sich aufmachen zu können in sein eigenes Leben, erst ergründen muss, wo seine Wurzeln liegen. In einem tragfähigen, dicht gewebten Schreibstil berichtet Alain Claude Sulzer von einer Suche, in deren Verlauf unerwartete Geheimnisse an die Oberfläche drängen, und er lässt uns eintauchen in die 1950er-Jahre, in denen es schwer war, vermutlich schwerer noch als heute, anders zu sein als die Mehrheit. Bedächtig und doch pointiert sind die Sätze dieses Schriftstellers, der es perfekt versteht, dem Leser schon früh ein Gefühl für die Hintergründe zu geben, ohne sie allzu offensichtlich darzulegen. Lange muss man zwischen den Zeilen lesen, bis der Verdacht, den man hatte, bestätigt wird. Das ist fesselnd und verlangt jene Aufmerksamkeit, die diesem Roman gebührt. Atmosphärisch sind die Sätze, rhythmisch die Beschreibungen: „Die Luft, die nach Heizöl roch, war vom erregten Ticken unzähliger großer und kleiner Uhren durchwirkt, die unvermittelt in verschiedenen Tonlagen und Lautstärken immer wieder halbe, ganze oder Viertelstunden schlugen.“
Zur falschen Zeit ist ein kluges Buch, das ein tragisches Thema aufgreift, aber nie um Mitleid heischt. Kurz irritiert hat mich, dass Emil, der Vater, erst sehr spät auf Seite 97 eine eigene Perspektive bekommt – in der Folge trägt seine Sicht der Dinge aber dazu bei, der Geschichte mehr Tiefgang zu verleihen. Leise klingt die Traurigkeit durch den ganzen Roman, der jedoch nicht sentimental wird. Sehr flüssig zu lesen, rundum gelungen!
Zur falschen Zeit ist erschienen im Galiani Verlag Berlin (ISBN 978-3-86971-019-8, 18,95 Euro).
mit „Lange muss man zwischen den Zeilen lesen, bis …“ hast du mich geködert. ich liebe solche bücher:-)
Hoffentlich hab ich damit nicht zu viel verraten! 😉
Wieder hast du eine feine Perle aufgestöbert, die ich auf meine Kette besonderer Bücher aufnehmen möchte. Vielen Dank!
Herzlichst,
Klappentexterin
Das Buch befand sich ohnehin schon auf meiner Wunschliste – allein wegen seiner wunderbaren Covergestaltung. Dass es sich – wie du schreibst – um einen klugen Roman handelt, der eine tragische Geschichte ohne jeden Kitsch erzählt, hat meine Neugier bestätigt.