Jakob Hein: Kaltes Wasser

HeinEin Schelm, wer sich stets was Neues ausdenkt
Friedrich Bender ist ein Jugendlicher in der DDR. Das Leben dort ist einigermaßen öde, aber Friedrich ist überraschend kreativ: Wo keine Geschichten sind, da erfindet er welche. Zum Beispiel vor der gesammelten Klasse, der er regelmäßig berichten muss, was in der Zeitung steht. Keine sozialistische Zeitung ist derart spannend wie seine Erzählungen. Am interessantesten finden die Klassenkameraden freilich Friedrichs Freundin in London, in die er wahnsinnig verliebt ist – und die es leider gar nicht gibt. Während die Wende vielen Menschen, wie auch Friedrichs Eltern, den Boden unter den Füßen wegzieht, sieht er ein Paradies an neuen Möglichkeiten. Durch Einfallsreichtum gelangt er an Geld, Freunde, Frauen und einen Uniabschluss. Die Frage ist nur: Lässt sich ein ganzes Leben auf Lug und Trug aufbauen – oder bricht das Kartenhaus irgendwann in sich zusammen?

Kaltes Wasser von Jakob Hein wird auf dem Klappentext Schelmenroman genannt. Und das trifft es genau: Dies ist ein Schelmenroman par excellence. Und Protagonist Friedrich Bender ist ein ganz wunderbarer Schelm. Eigentlich ein 08/15-Typ, der sich von den Grenzen, die das Leben ihm auferlegt, schlicht nicht aufhalten lässt. Seine Fantasie überflügelt alles. Die Berliner Mauer hindert ihn daran, die DDR in der Realität zu verlassen. Aber in seinem Kopf reist er tatsächlich zu seiner Freundin nach England. Und das ist erst der Anfang – die Wende inspiriert ihn zu wahren Höhenflügen. Es gelingt dem deutschen Autor, der bereits 14 Bücher veröffentlicht hat, bestens, originelle Einfälle auf glaubwürdige Weise zu präsentieren. Das macht richtig viel Spaß. Ich weiß nie, was Jakob und Friedrich als Nächstes einfällt – und ich amüsiere mich prächtig mit diesem Buch. Es ist locker, luftig, schlau, witzig und ernst zugleich.

Jakob Hein ist ein Garant für niveauvolle Unterhaltung. Ich habe von ihm vor vielen Jahren Vor mir den Tag und hinter mir die Nacht gelesen. Sein neuester Clou driftet trotz allen Schelmentums nie ins allzu Seichte ab und hat bei aller Heiterkeit stets einen leicht zynischen, vernunftvollen Hintergrund. Mit dem Ende bin ich nicht zu 100 Prozent einverstanden, aber insgesamt hat dieses Buch mir einen ganz herrlichen Ausflug ermöglicht in eine längst vergangene Zeit, als man noch – frei von virtueller Kontrolle – ein Schwindler sein konnte, verwegen und voller verrückter Einfälle. Dieser Roman ist genau ein kleines Stelldichein mit der Leichtigkeit der Fantasie.

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Kaltes Wasser von Jakob Hein ist erschienen bei Galiani Berlin (ISBN 978-3-86971-125-6, 240 Seiten, 18,99 Euro).

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